Rätselhafte Naturgestalten

Ein Artikel von REISEN-Magazin/Christiane Bartal | 15.03.2022 - 08:18

Erdpyramiden – steinerne Giganten

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Jenseits der Erdpyramiden in Lengmoos liegt das verträumte Dörfchen Maria Saal mit der gleichnamigen Wallfahrtskirche. Dahinter lugen die Gipfel der Dolomiten hervor © Edler von Rabenstein/Shutterstock

Mächtig stehen sie da, die scheinbar aus Sand und Steinen gebauten und nach oben hin spitz zulaufenden Türme. Und gleichzeitig sind sie so vergänglich. Auf beinahe jeder Säule thront ein Stein, als hätten sich die Türmchen selbst Krönchen aufgesetzt. Aus Mangel an plausiblen Erklärungen glaubten die Menschen früher, Geister und Riesen wären hier am Werk gewesen. Heute wissen wir, dass die Natur zu unglaublichen Meisterwerken fähig ist, ja der wohl beste Baumeister überhaupt ist. Aber wie konnte sie diese rätselhaften Formationen bilden?

Die Erdpyramiden auf dem Ritten, dem Hausberg von Bozen in Südtirol, zählen zu den schönsten Europas. In gleich drei Orten des malerischen Hochplateaus auf rund 1.200 m zwischen den Flüssen Eisack und Talfer gibt es derartige „steinerne“ Säulen zu bewundern. Während die Erdpyramiden im Gasterergraben in Unterinn einen helleren Beige- bis Grauton haben, zeigen sich jene im Finsterbachgraben zwischen Lengmoos und Mittelberg sowie jene im Katzenbachtal bei Oberbozen auffallend rötlich. In Unterinn verstecken sie sich geradezu in einem Wald, während sich die Lengmooser Erdpyramiden neugierigen Besuchern auf der leicht zugänglichen Aussichtsplattform unverblümt zur Schau stellen. Am nächsten kommt man den bizarren Steinsäulen in Oberbozen, dafür  nimmt man auch gerne eine kurze Wanderung durch den Wald in Kauf.

Wie aus Moränenlehm Säulen werden

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Der Moränenlehm ist in trockenem Zustand steinhart. In Verbindung mit Regen aber wird er zu lehmigem Brei. Nur unterhalb der Steine bleibt er trocken und fest © Magdanatka/Shutterstock

Mehrere Faktoren müssen zusammenspielen, damit solche Erdpyramiden entstehen: Es braucht die richtige Materialbeschaffenheit, abwechselnde Regen- und Trockenzeiten und eine windgeschützte Hanglage. Der wohl wichtigste Faktor ist ein lehmiges, feinkörniges Bodenmaterial mit eingelagerten größeren Steinen.
Am Ritten handelt es sich um Moränenlehm aus der späten Eiszeit, sprich rund 25.000 Jahre alte Ablagerungen des großen Eisackgletschers und kleinerer Nebengletscher, die an den Abbruchkanten bis zu 15 m hohe Steilwände bilden. Dieser Lehm ist in trockenem Zustand steinhart, verwandelt sich aber in Verbindung mit Wasser zu einem lehmigen Brei. Ist durch Hangrutschungen und Erosion die schützende Pflanzen- und Bodendecke erst einmal abhanden gekommen und das Moränenmaterial freigelegt, beginnt der Entstehungsprozess einer Erdpyramide: Bei Regen wird der Lehm weich und fließt als zähflüssiger Brei vom Steilhang ab. Unterhalb von im Lehm eingelagerten Steinen jedoch bleibt das Material trocken und fest und somit als Kegel stehen. Deshalb sitzt auf beinahe jeder Säule ein Stein – ohne seinen Schutz gäbe es sie schließlich nicht. Der Stein fungiert sozusagen als Dach.

Faszinierende Vergänglichkeit

Sobald der Stein das Gleichgewicht verliert und herunterfällt, ist die Säule der zerstörerischen Kraft der Erosion ausgeliefert. Doch während die eine Säule mit jedem Regenguss kleiner wird, entsteht oben an der Abbruchkante schon die nächste. Auf dem Ritten sind  riesige Moränenlager vorhanden, aus denen stetig neue Pyramiden herauswachsen können.
Im Wechselspiel von starken Regenfällen und längeren Trockenphasen werden die Steilhänge immer zerfurchter – die Pyramiden wachsen scheinbar aus dem Boden empor. Bis zu 30 m hoch können sie werden. Bei den größten geht man von tausenden Jahren aus, die vergehen, bis eine solche Säule entsteht.
Weitere Erdpyramiden, wenn auch nicht so groß und formenreich wie am Ritten, gibt es ganz in der Nähe bei Percha, in Steinegg, Terenten, Toblach und Welsberg. Sie alle sind als geologische Naturdenkmäler geschützt. Auch außerhalb von Südtirol gibt es vergleichbare Naturwunder: in Tirol (Schönberg, Wald-Hohenegg bei Roppen, Serfaus), Osttirol (Iselsberg-Stronach), Italien, Bulgarien und in der Schweiz.